Ahimsa – das Prinzip der Gewaltlosigkeit – ist nicht nur ein ethisches Gebot. Es ist das erste der fünf Yamas, die den Auftakt des achtgliedrigen Pfads (Aṣṭāṅga Yoga) nach Patañjali bilden. Dass Ahimsa dabei an erster Stelle steht, ist keine Nebensache: Es ist die Grundlage für jede tiefere Praxis im Yoga, sowohl auf der Matte als auch im Leben selbst.
Die Yamas – Ethik als Basis des Yoga
Im Yoga Sūtra von Patañjali wird der achtstufige Pfad zur Selbstverwirklichung beschrieben. Die erste Stufe sind die Yamas, ethische Prinzipien im Umgang mit der Welt. Sie sind universell, unabhängig von religiöser oder kultureller Zugehörigkeit.
Die fünf Yamas sind:
- Ahimsa – Gewaltlosigkeit
- Satya – Wahrhaftigkeit
- Asteya – Nicht-Stehlen
- Brahmacharya – Maßhalten
- Aparigraha – Nicht-Anhaften
Ahimsa steht bewusst an erster Stelle – als inneres Fundament, ohne das die weitere Praxis instabil bleibt.
Gewaltlosigkeit als Wurzel des Yogischen Lebens
Der indische Yogalehrer T.K.V. Desikachar, Sohn des Yogameisters Krishnamacharya, schreibt in seinem Werk „Yoga – Tradition und Erfahrung“, dass Ahimsa eine stetige Übung im Alltag sei. Es gehe nicht darum, perfekt zu sein, sondern immer wieder in sich hineinzuhorchen. Ahimsa bedeutet, sich selbst zu fragen: Ist das, was ich denke, sage oder tue, verletzend – für mich oder für andere? Und wenn ja, kann ich einen liebevolleren Weg wählen?
Desikachar betont: Gewaltlosigkeit beginnt im Inneren. Wer sich selbst ständig abwertet, kann auch anderen nicht mit echter Freundlichkeit begegnen. Ahimsa fordert uns auf, Bewusstheit in jede Handlung zu bringen – auch in unser inneres Gespräch.
Ahimsa im Alltag – Wohlwollend und wertschätzend
Mit mir selbst:
- Innere Sprache: Wie spreche ich mit mir, wenn ich scheitere?
- Selbstfürsorge: Gönne ich mir Pausen, achte ich auf meine Grenzen?
- Selbstbild: Kann ich liebevoll mit meinen Schwächen sein?
Mit anderen:
- Worte und Tonfall: Spreche ich ehrlich, aber respektvoll?
- Verhalten: Handle ich aus Angst, Rechthaberei oder Mitgefühl?
- Grenzen setzen: Auch ein „Nein“ kann gewaltlos und klar sein.
Ahimsa bedeutet nicht, alles hinzunehmen. Es heißt, in Verbindung zu bleiben – auch beim Setzen von Grenzen – ohne Hass oder Härte.
Ahimsa ist ein Weg – kein Ziel
Ahimsa steht am Beginn des Yogawegs, weil ohne diese Haltung keine echte Tiefe entsteht. Wenn wir uns oder andere ständig innerlich angreifen, bleibt unser Geist unruhig, unser Herz verschlossen. Meditation, Achtsamkeit und Selbsterkenntnis brauchen eine Basis aus Sicherheit und Güte – genau das schafft Ahimsa. Es ist kein perfektes Verhalten, sondern eine stetige Einladung zur Achtsamkeit und Sanftheit – mit uns selbst und mit der Welt. Jeden Tag können wir uns neu fragen: Was wäre jetzt die nicht-gewaltsame, die verbundene Handlung? – und diesen Moment bewusst gestalten.
Namasté Melanie
Foto @ Andreas Brüggemann